Die Frühgeschichte des Havellandes, der Mark Brandenburg, ja ganz Ostdeutschlands, ist auch die Geschichte der Semnonen, welche ein germanischer Volksstamm sind. Und dies für eine lange Zeit. Je intensiver sich Historiker und Archäologen mit ihnen beschäftigen, desto älter, größer und wichtiger scheint dieser, vor wenigen Jahrzehnten in der Öffentlichkeit noch nahezu unbekannte Germanenstamm zu werden.

semnonen nauen

Die Ursprünge der Semnonen reichen nach aktuellem Forschungsstand bis in die vorrömische Eisenzeit, die sogenannte spätere Hallstattzeit (ca. 500 v.d.Z.)…neueste Funde jedoch, wie das im Frühjahr 2017 in Berlin-Köpenick zutage geförderte germanische Grubenhaus datieren diesen Ursprung gar um weitere 100 Jahre, auf ca.600 v.d.Z. zurück.

Zu dieser Zeit war an ein römisches Imperium noch nicht zu denken und die ewige Stadt versprühte noch den Charme eines idyllischen Provinznestes, die Perser beherrschten weite Teile der alten Welt vom indischen Subkontinent im Osten, bis auf den Balkan in Europa und Lybien in Nordafrika und es sollten noch weit über 300 Jahre vergehen, bis der erste europäische Superheld, Alexander der Große in die Annalen der Geschichtsschreibung eingehen sollte.

Die Herrschaft der Semnonen endete, zumindest in der Mark Brandenburg erst im 5.-6. nachchristlichen Jahrhundert, wenngleich schon ab dem 3. Jahrhundert eine allmähliche aber stetige Abnahme der Siedlungsdichte zu verzeichnen ist.
Am Ende der sogenannten Völkerwanderungszeit war nur noch eine spärliche Restbevölkerung zurückgeblieben, ja ganz Ostdeutschland scheint nur noch sehr dünn besiedelt gewesen zu sein.
Ab dem 7. Jahrhundert n.d.Z. begannen von Osten nachrückende Völkerschaften, heute als “Slawen” bekannt, dieses entstandene Vakuum zu füllen.
Die verbliebene germanische Restbevölkerung vermischte sich mit den Siedlern und ging schließlich in den sich neu bildenden Stämmen auf.

Die Semnonen können also eine über tausendjährige Geschichte vorweisen, was selbst im globalen Maßstab eine beeindruckende Zeitspanne darstellt.
Nicht viele Kulturen der Weltgeschichte können auf eine tausendjährige Siedlungskontinuität zurückblicken.

Welch ideologischen Rückenwind der heutige Wissensstand dem Größenwahn des äußerst germanophilen deutschen Nationalsozialismus verliehen hätte, kann heute nur gemutmaßt werden…doch auch ohne diesen hat der politische und rassistische Missbrauch der germanischen Geschichte die Forschungen auf diesem Gebiet um Lichtjahre zurückgeworfen und die akribische, oftmals sehr fortschrittliche Arbeit zeitgenössischer Historiker und Archäologen über Jahrzehnte hinweg diskreditiert.
Eine “Germanisierung des deutschen Ostens durch Albrecht den Bären”, eine beliebte NS-Propaganda, jedenfalls kann vor diesem Hintergrund als ideologisch verbrämtes Märchen angesehen werden.

Doch zurück zu den Semnonen.

Selbst Tacitus wusste in seiner ca. 100 n.Ch. entstandenen “Germania” vom “ältesten und ehrwürdigsten Stamm der Sueben” zu berichten, dessen Ausbreitungsgebiet riesig gewesen und “einhundert Gaue” umfasst haben soll.
Erstaunlich ist, dass sich die Kunde von Alter und Ursprung der Semnonen bis in Taciteische Zeit erhalten hatte, gab es die Semnonen doch zu diesem Zeitpunkt schon mehr als fünfhundert Jahre.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass Tacitus seine Informationen bezüglich der Semnonen gar aus erster Hand bezog, denn zumindest während seiner Zeit als Senator unter Kaiser Domitian hätte er die Möglichkeit zum Austausch mit semnonischen Würdenträgern in Rom gehabt, denn Besuche dieser Art sind für die Amtszeit des Domitian überliefert.

Bis heute hat sich an der Darstellung des Tacitus nichts geändert, vielmehr hat die Forschung seine Angaben untermauern können.
Noch immer gelten die Semnonen als Kernstamm der so genannten Elbsueben, bzw. Elbgermanen, deren Völkerschaften so ziemlich das gesamte Gebiet des heutigen Ostdeutschland besiedelten, darüber hinaus noch Ländereien jenseits von Elbe und Oder, sowie südlich der ostdeutschen Mittelgebirge.

Zu den “Elbgermanen” zählt die Wissenschaft neben den Semnonen und anderen, vor allem die Hermunduren (später Thüringer), Markomannen (später Bajuwaren), Quaden (siehe Markomannen) und die verschiedenen sonstigen Sueben oder Sweben, aus denen später zum Beispiel auch die Schwaben und die Schweizer wurden.
Die laut Fachmeinung zu den Elbgermanen zählenden Langobarden sind nach eigener Darstellung ihrer “Langobarden-Chronik” hingegen skandinavischer Herkunft, während die Sachsen, die gemeinhin nicht dazugezählt werden, sich selbst als Abkömmlinge Irmins sahen (Irminsul/Externsteine), der als Stammvater der Suebischen Stämme gilt.

Die semnonische Bevölkerung scheint insgesamt vergleichsweise wohlhabend gewesen zu sein. So frönten sie über die Jahrhunderte hinweg ein offenbar sorgloses Dasein, in dem es an kaum etwas zu mangeln schien, wie uns die Archäologie heute aufzeigt.

Mann kann wohl davon ausgehen, dass die Semnonen ein wichtiges Glied, nicht nur im Handel an der Bernsteinstraße, sondern generell im innergermanischen und europäischen waren.
Jedenfalls lagen ihre Stammesgebiete genau zwischen den Hauptfundstätten des Bernsteins an der nordöstlichen Küste der Ostsee, welche die Römer bezeichnenderweise “Mare Suebicum”, also Suebisches Meer nannten, und den nächstgelegenen Abnehmern am römischen Limes im Westen und Süden.

Die Vielzahl an Funden aus den verschiedensten Teilen der damals bekannten Welt und auch an Bernstein, spricht diesbezüglich eine beredte Sprache, während die herausragende Stellung der Semnonen auch durch antike Aufzeichnungen belegt ist.

Dem römischen Kaiser Domitian jedenfalls schienen die Semnonen derart bedeutend zu sein, dass er mit Masios sowohl einen ihrer Könige, als mit Ganna auch eine Seherin und damit eine Repräsentantin semnonischer Spiritualität zu sich nach Rom einlud.
Eine Ehre, die das sonst eher zur Überheblichkeit neigende römische Imperium nur wirklich wichtigen Bündnisgenossen und den Vertretern mächtiger Nationen zuteil werden ließ, die man sich gewogen zu machen wünschte.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch die Römer in den Semnonen die Herren aller Sueben sahen und sich durch solcherlei Gunsterweisung deren Gewogenheit sichern wollten, hatten sie doch schon seit der gallischen Kriege (des Julius Caesar vielerlei “Probleme” mit Abkömmlingen dieses Volkes gehabt und diese in schlechter Erinnerung behalten.
Wenn schon ein einziger suebischer Fürst und Heerkönig wie Ariovist (gest. 54 v.d.Z.), plötzlich aus dem Nichts der „Germania Magna“ auftauchend, in der Lage war mächtige keltische Völker zu unterwerfen und sein Gefolge in nur 10 Jahren von 15.000 auf 120.000 zu erhöhen, wozu musste dann der Mutterstamm oder gar die Gesamtheit dieses riesigen Volkes fähig sein?

Eventuell zahlte das Imperium sogar ein regelmäßiges Schutzgeld an die Semnonen, damit diese beispielsweise die ebenfalls suebischen Markomannen davon abhielten ins Reichsgebiet einzufallen.
Dies könnte eine mögliche Erklärung für den verhältnismäßig großen Wohlstand der Semnonen im Vergleich mit anderen germanischen Stämmen ihrer Zeit sein.

An der außerordentlichen Fruchtbarkeit des Ackerlandes im semnonischen Siedlungsgebiet kann dies jedenfalls nicht gelegen haben, denn erst vor ca. 300 Jahren machte die gezielte Melioration aus dem Wald- und Sumpfland des Havellandes die einträgliche bäuerliche Kulturlandschaft die wir heute kennen.
Trotzdem war die Region schon vor 2000 Jahren ähnlich dicht besiedelt wie heute, mit weniger Menschen zwar, dennoch findet sich unter so gut wie jeder heutigen Ortschaft mindestens eine germanische Siedlung.

Die höchste Siedlungsdichte wies das Havelland übrigens im 1. Jahrhundert v.d.Z. auf.

Eine Besonderheit stellt die Stadt Nauen dar. Auf deren Stadtgebiet, sowie in unmittelbarer Umgebung fanden sich gleich vier germanische Siedlungen aus den ersten nachchristlichen Jahrhunderten, von denen sich drei in Größe und Gestalt kaum von zeitgenössisch vergleichbaren semnonischen Siedlungen des Havellandes unterscheiden, die vierte jedoch deutlich hervorsticht und zwar sowohl was die Größe, als auch was die Lage angeht.

semnonen nauen

Auf einem flachen Talsandhügel, Bärhorst genannt, mitten im heute trockengelegten Niederungsgebiet des ehemaligen Peenelaufes wurde in den Jahren 1935-38 ein für diese Region und Zeit eher untypischer Siedlungsbefund zutage gefördert.
Im Vergleich mit den anderen, zeitlich parallel bewohnten Siedlungen der nächsten Umgebung sticht zum einen die immense Größe der quadratisch angelegten Siedlung mit fast 200 Metern Länge hervor, zum anderen verwundert auf den ersten Blick die vergleichsweise ungünstige Lage eines derart großen Dorfes, dessen Siedlungsgrund nur unwesentlich über dem Wasserspiegel des umliegenden Feuchtgebietes gelegen haben dürfte und zumindest im Frühjahr einer ständigen Gefahr durch Hochwasser ausgesetzt war.

Trotz dieser Unwägbarkeit war die Germanensiedlung von Nauen-Bärhorst nachweislich gut 100 Jahre lang bewohnt und scheint über eine Art eigene Infrastruktur verfügt zu haben. So findet sich direkt vor der Längsseite eines ungewöhnlich großen Langhauses eine ebenfalls untypisch große Freifläche, die einige Historiker als Versammlungsort, einen so genannten „Thing-Platz“ ansehen.
Solche Thingplätze befanden sich bei den Festlandsgermanen Mitteleuropas jedoch im Regelfall außerhalb der Ortschaften in speziellen, vermutlich religiös, bzw. kultisch-rituell genutzten Arealen und standen zudem allen Bewohnern einer bestimmtenen Region zur Verfügung.

Was also bewog die Siedler zur Wahl ihrer Niederlassung und warum findet sich diese größte und bevölkerungsreichste Ansiedlung nicht auf dem günstigsten Gelände, etwa auf dem heutigen Stadtgebiet Nauens?

Diesbezüglich gehen die Expertenmeinungen auseinander.
Mittlerweile kristallisiert sich die „Langobarden-Theorie“ als eine der wahrscheinlichsten heraus.

Schon seit den antiken Chronisten weiß man von der ungewöhnlichen Siedlungsnähe, bzw. der Mischsiedlung von Langobarden und Semnonen, sowie anderer elbsuebischer Stämme.
Dies und gewisse kulturelle Gemeinsamkeiten führten schließlich zu der gängigen Fachmeinung, bei den Langobarden hätte es sich um ein Volk der so genannten „Elbgermanen“, also einen den Semnonen verwandten Stamm gehandelt.
Nach eigenem Bekunden (siehe „Langobarden-Chronik“) stammen die Langobarden jedoch ursprünglich aus Skandinavien, können also nicht in Verwandtschaft zu den suebischen Völkern stehen.
Es ist also davon auszugehen, dass sich die Langobarden schon im ersten nachchristlichen Jahrhundert auf ihrer Wanderung befanden, welche sie schließlich einige Jahrhunderte später nach Rom und an die Macht über das Imperium führte.
Sie dürften sich trotz ihrer immensen Bevölkerungszahl und Kampfkraft unter den Schutz der noch zahlreicheren und mächtigeren Semnonen und ihrer Abkömmlinge gestellt haben und hier für den Verlauf von mindestens einhundert Jahren eine sichere Heimat gefunden haben.

Natürlich stand im Wald- und Wasserland der hier lebenden Semnonen kaum noch adäquater unbesetzter Siedlungsplatz zur Verfügung, was auch eine mögliche Erklärung für den Ort der Niederlassung wäre.
Weitere Indizien für eine nicht einheimische Herkunft der Bärhorstbewohner sind neben dem an nordgermanische Hallen- bzw. Versammlungshäuser erinnerndes Langhaus und dem „internen“ Thingplatz, auch Funde von Resten des Wandlehmputzes der Häuser, aus welchen einige Forscher eine Wandausfachung in Stabbauweise ablesen wollen, eine Bauweise jedenfalls die ebenfalls eher von nordgermanischen Langhäusern bekannt ist.
Zudem unterschied sich die vorgefundene Keramik derart von den zeitgenössischen Töpferarbeiten der umliegend siedelnden Semnonen, dass ein nicht einheimischer Ursprung der Siedler mehr als wahrscheinlich ist.

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Verfasser: Rico Krüger