Hitler wurde am 30. Januar 1933 vom Reichspräsidenten Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. Viele der über 6 Millionen Arbeitslosen erhofften sich durch ihn eine Verbesserung ihrer Lage. Nur so ist es zu verstehen, dass er schnell Gefolgsleute fand, die ihn bei den beginnenden Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung unterstützten.
Als am 1. April 1933 die Zeitungen im ganzen Reich zum Boykott aller nichtarischen Geschäfte aufriefen, konnte die Havelländische Rundschau in der gleichen Ausgabe für Nauen bereits mit einer Vollzugsmeldung vom Vortrag aufwarten:
„Gestern abend kündete ein Umzug durch die Straßen der Stadt Nauen den Beginn des heute auch hier einsetzenden Boykotts der jüdischen Geschäfte und Ärzte an. Unter Vorantritt des SS- und SA-Reservekapelle marschierten die Nauener SA, die Motorstaffel, die SA Reserve und die Mitglieder des NSBO unter Mitführung von Transparenten, die zum Boykott der jüdischen Geschäfte aufforderten, vor einige der zu boykottierenden Geschäfte. Die Kapelle spielte dort das Lied: „Muß i denn, muß i denn
zum Städele hinaus…“
Der eigentliche Boykott der jüdischen Geschäfte und Arztpraxen in Nauen setzte am Sonnabend, den 1. April 1933 Punkt 10 Uhr ein. Posten der SA besetzten die Geschäftseingänge und hingen Schilder vor die Türen, die zum Boykott aufforderten.
Die Vorgänge wurden vom Publikum ruhig oder beifällig, je nach Einstellung beobachtet. Die meisten der vom Boykott betroffenen Geschäfte hatten freiwillig geschlossen.
Auch vor den Häusern der jüdischen Ärzte, wie z.B. der Kinderärztin Dr. Olga Philip in der Hamburger Straße 4 und der Zahnarztpraxis von Dr. Lebram in der Dammstraße 15, standen Posten der SA. Trotz alledem sah Emil Homburger auch weiterhin seine Zukunft in Nauen. So kaufte er noch Ende 1933 Haus und Grundstück Am Ritterfeld 22.
Andere Geschäftsbesitzer erkannten schon früh die Zeichen der Zeit und verließen die Stadt noch rechtzeitig. So wurde aus dem Kaufhaus der Geschwister Ploschitzki das Kaufhaus Herke und in das ehemalige Kaufhaus Emil Hirsch zog ins Erdgeschoss ein Kaiser’s Kaffeegeschäft ein und in den oberen Etagen residierte nun die NSDAP-Kreisleitung unter der Adresse „Straße der SA“ wie die Mittelstraße nun hieß.
Das gesamte gesellschaftliche Leben änderte sich schlagartig. In allen Bereichen erfolgte die Gleichschaltung im Sinne des Nationalsozialismus. Wer sich nicht anpasste oder unterordnete wurde verhaftet oder verlor zumindest seinen Posten. So auch der von allen respektierte Direktor des Gymnasiums, Dr. Paul. Er war ein bekennender Demokrat und musste zu Gunsten eines altgedienten Parteigenossen den Weg freimachen.
Ab sofort herrschte ein anderer Wind am Gymnasium!
Aus den Erinnerungen des ehemaligen Gymnasiasten, Günther Mönke:
„Der 1. Mai 1933 war ein extrem kalter Tag. An diesem „Tag der Arbeit“ wurden alle Werktätigen der Stadt Nauen zur Teilnahme an einer Großkundgebung aufgerufen, richtiger gesagt, befohlen. In geordneten Blöcken, die Fahnen voran, bewegten wir uns – jeweils fünf Teilnehmer in einer Reihe – durch die Stadt, hinaus auf den Sportplatz. Die „Braunhemden“ bildeten die Spitze. Dann kamen die Blöcke der Feuerwehr, der Postler und der Eisenbahner in ihren blauen Uniformen. Den Schluß bildeten zivilgekleidete Gruppen, sie galten als „noch nicht erfasst“, störten das Gesamtbild der Uniformierten und bildeten somit den schäbigen Rest. In dieser Kategorie marschierten auch die Schulklassen mit ihren Lehrern. Noch trugen wir
stolz unsere farbigen Schülermützen.“
Hans Homburger besuchte das Gymnasium noch bis zum März 1938, der sogenannten Obertertia. Dann
wurde der Druck immer unerträglicher.
Auch seine Mitgliedschaft im VDA, dem „Volksbund für das Deutschtum im Ausland“ konnte ihn nicht mehr vor den Repressalien an der Schule schützen. Der VDA in Nauen wurde von Studienrat Dr. Scholz gegründet, der für seine parteipolitische Abstinenz bekannt war. Damit wollte er eine Alternative
Alternative zur Hitlerjugend schaffen, scheiterte jedoch schnell mangels Mitglieder.
Nun war der 15jährige Hans völlig ausgegrenzt. Er konnte es nicht verstehen oder wollte es einfach nicht wahrhaben, daß man mit ihm keinen Kontakt mehr haben durfte. Dabei fühlte er sich doch so sehr als Deutscher!
Sein Mitschüler Günther Mönke erzählt in seinen Memoiren:
„Wiederholt hatte sich Hans um die Mitgliedschaft im Deutschen Jungvolk beworben. Seine Bemühungen wurden aber ignoriert. Doch der 15jährige wollte alle pauschalen Verleumdungen widerlegen: Mit Hilfe seines Vaters pachtete er von einem Bauern ein Stück Ackerland, dazu ein Pferd und das notwendige Ackergerät. Er wollte beweisen, daß auch ein jüdischer Junge genauso hart arbeiten kann wie ein deutscher Junge. Ich wohnte damals mit meinen Eltern im Fontaneweg und konnte über die Hamburger Chaussee hinweg diesen Acker einsehen. Es schmerzte mich, mitzuerleben wie Hans bei Herbstwind und Regen, in Gummistiefeln und Wettermantel, eine schwarze Baskenmütze auf dem Kopf, die Pferdeleine um den Leib gebunden, sich hinter dem Pferd und dem schweren, eisernen Pflug herschleppte. Furche um Furche brach er den schweren Lehmboden auf, der ihn mit dem Pflug immer wieder ins Wanken brachte. Seine Arme und Beine schienen unter der Anstrengung zu zittern. Jedes Mal wenn er den Straßenrand erreicht hatte, richtete er sich auf, um den schmerzenden Rücken zu recken, bevor er Pferd und Plug in die Gegenrichtung wendete.
Einige Zeit danach waren er und seine Eltern spurlos aus Nauen verschwunden.“
Der eigentliche Auslöser für das Verschwinden der Homburgers war die Pogromnacht vom 09. auf den 10. November 1938, die von den Nazis auch verächtlich als „Reichskristallnacht“ bezeichnet wurde.
In der Havelländischen Rundschau war zu lesen:
„Antijüdische Kundgebungen im Osthavelland
Die berechtigte Entrüstung über die jüdische Untat an dem jungen deutschen Diplomaten vom Rath in Paris hat gestern auch im Kreise Osthavelland zu starken antijüdischen Kundgebungen geführt. In Nauen wurden in den Mittagsstunden die Schaufenster der beiden noch vorhandenen jüdischen Geschäfte eingeschlagen und die Ladeneinrichtungen demoliert. Selbstverständlich sind die Waren unangetastet geblieben. Weiter sind die Synagoge in der Potsdamer Straße und die Räume der anderen in Nauen wohnhaften Juden durch die allgemeine Empörung in Mitleidenschaft gezogen worden.“
Diese Darstellung verharmloste die Ereignisse in der Progromnacht schamlos. In Wirklichkeit marodierten die Nauener SA und ihre Helfer durch die Stadt und plünderten die jüdischen Geschäfte und Wohnungen aufs Schlimmste.
Der 1923 in Nauen geborene Tischlerlehrling Kurt Raschke schrieb in seinen Erinnerungen:
„Am Morgen des 10. November 1938 ging ich wie jeden Tag zu meiner Lehrstelle, der Bau-, Sarg- und Möbeltischlerei Weizenegger in der Marktstraße 14.
Als ich in die Nähe der Bergstraße kam, sah ich, wie zwei SA-Männer einen etwas kleineren Mann mit Knüppeln verprügelten. Näher betrachtet, musste ich feststellen, dass es der Inhaber der Konfektionsgeschäftes Emil Homburger war. Sein Schaufenster war zertrümmert. Davor und bis
vor den Ladeneingang des benachbarten Geschäfts der Gärtnerei Michaelis lagen verstreut die
herausgeworfenen Auslagen des Textilgeschäftes.“
Das deckt sich auch mit den Angaben in der Wiedergutmachungsakte von Emil Homburger aus dem Jahre 1956. Hier gibt er zu Protokoll:
„Am 10. November 1938 wurde die große Schaufensterscheide meines Geschäfts zerschlagen und die Ware auf die Straße geworfen. Weiterhin wurde bei dieser Gelegenheit von den Plünderern eine große Menge von Waren aus dem Geschäft entwendet. Daraufhin wurde auf Veranlassung der Polizei vom
Tischlermeister Krumrey in Nauen ein Holzverschlag vor dem zerschlagenen Schaufenster angebracht. In der Nacht drangen jedoch wiederum Nazis in den Laden ein und stahlen einen weiteren Teil des Warenlagers…..“
Auch in der privaten Wohnung der Homburgers zerschlugen die Eindringlinge Lampen, Geschirr, Fensterscheiben, Bilder, Porzellan, kurzum alles, was ihnen in die Hände kam.
Die von der örtlichen Polizei sogenannte „eingehende Durchsuchung“ betraf auch die Synagoge (eigentlich mehr ein Betraum) in der Potsdamer Straße. Dass diese nicht angezündet wurde, ist wohl nur dem Umstand zu verdanken, dass sie direkt neben dem Gebäude eines stadtbekannten SS-Führers stand.
Emil Homburger war zu dieser Zeit das letzte hier noch wohnende Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde. In dieser Funktion musste er den Polizeibehörden alle noch vorhandenen Unterlagen aus dem demolierten Gemeindehaus sowie das Schächtemesser, das im Safe des Nauener Bankvereins lag, aushändigen.
Laut Anordnung der Gestapo-Zentrale in Potsdam waren alle „vermögenden männlichen Juden
nicht zu hohen Alters“ festzunehmen. Aufgrund dessen wurde auch Emil Homburger am 10.November verhaftet und ins Polizeigefängnis Nauen gebracht.
Zwei Tage später bat er in einem Brief an den Bürgermeister um seine Haftentlassung mit dem Versprechen, jederzeit der Polizeibehörde zur Verfügung zu stehen. Vergeblich! Am 15. November wurde er zur Gestapo-Zentrale nach Potsdam gebracht. Dort wurde ihm eindeutig zu verstehen gegeben, dass er Deutschland schnellstmöglich zu verlassen habe, sonst drohe ihm erneut Verhaftung und Verbringung in ein Konzentrationslager. Nach fast zwei Wochen ständiger Bedrohung und Einschüchterung wurde Emil Homburger aus der Gestapohaft entlassen.
Von diesen Ereignissen im November 1938 in Nauen bekam sein Sohn Hans nichts mit, denn er machte seit dem 1. April 1938 eine landwirtschaftliche Ausbildung im Landwerk Neuendorf bei Fürstenwalde/Spree. Dieser Lehrbetrieb für Landwirtschaft und Gartenbau der Jüdischen Arbeitshilfe e.V. Berlin bestand bereits seit 1932 und bot jüdischen Jugendlichen Ausbildungsmöglichkeiten in Land-, Forst- und Viehwirtschaft, Gärtnerei und anfangs auch in handwerklichen Berufen an.
Nach der Machtübernahme der Nazis wurde das Landwerk Neuendorf darüber hinaus eine überlebenswichtige Zwischenstation für die Auswanderung junger Juden sowohl nach Palästina als auch in andere Aufnahmeländer. Es galt bald als die „größte Berufsausbildungsstätte für junge Juden in
Deutschland“. Der Verein versuchte die Ausbildung, die sogenannte Hachschara, mit den realen Auswanderungsmöglichkeiten zu koppeln, was von Jahr zu Jahr immer schwieriger wurde. Trotzdem gelang es ihm z.B., dass von Dezember 1935 bis Juni 1939 mehrere Familien nach Argentinien
auswandern konnten. Dass die Bewerber und Bewerberinnen die Fähigkeit zu schwerer körperlicher Arbeit mitbrachten, hatten sie bei ihrer Aufnahme durch ein ärztliches Attest nachweisen müssen.
Besonders die jungen Männer wurden zu schweren Landarbeiten zur Bodenverbesserung herangezogen. Hans Homburger sollten diese Erfahrungen ein paar Jahre später von großem Nutzen sein. Da er sich schon immer für Pferde interessierte, arbeitete er auch im Pferdestall des Gutes. Frühmorgens um halb 4 Uhr begann sein Arbeitstag mit der Pflege der Pferde und der Gespanne. Dort erlebte er auch den massiven Angriff der SS-Horden im November 1938.
Kurt Gumpel, ein ehemaliger Neuendorfer, erinnert sich an die Pogromnacht im Landwerk Neuendorf wie folgt:
„Dass das Leben auf dem Gut Neuendorf dennoch nicht ungefährdet war, demonstrierte nachdrücklich ein Vorfall, bei dem eines Nachts plötzlich ein SS-Trupp auftauchte, der die Praktikanten in das KZ Sachsenhausen verbringen sollte. Nur durch das beherzte Eingreifen des jüdischen Leiters der Einrichtung, Alex Moch, gelang es, den SS-Führer zu überzeugen, daß der landwirtschaftliche Betrieb nicht ohne ausreichende Arbeitskräfte geführt werden könnte, so daß wenigstens der jüngere Teil der Praktikanten
verschont blieb.“
Von diesen Ereignissen erzählte Hans Homburger später auch seiner Tochter Betty:
„Mein Vater erinnerte sich sehr gut an seine Ausbildung im Landwerk Neuendorf. Er war immer dankbar,
wenn er etwas über die Landwirtschaft und die Arbeit mit Pferden lernen konnte, die er liebte. Besonders dankbar war er den Verantwortlichen, daß man ihn, in einer sehr schwierigen Zeit seines Lebens, als er beinahe ins Konzentrationslager geschickt worden wäre, mit der Aussage rettete, dass er sich um die Pferde kümmern müsse.“
Hans blieb noch bis zum 22. Februar 1939 im Landwerk Neuendorf. In seinem Zeugnis wurde besonders seine Tierliebe hervorgehoben und eine Zukunft als Tierpfleger empfohlen. Normalerweise dauerte eine Ausbildung im Landwerk ein Jahr. Aber in diesem Fall musste sie früher abgebrochen werden, da sein Vater die lang ersehnten Visa für die Auswanderung erhalten hatte.
Autor: Uwe Ulrich
>>> Hier zu Schicksal der Familie Homburger – Teil4 – Flucht nach Bolivien
>>> Hier zu Schicksal der Familie Homburger – Teil1 – Jüdisches Leben in Nauen
>>> Hier zu Schicksal der Familie Homburger – Teil 2 – Wer waren die Homburgers
Quellennachweis:
- Aus der Geschichte der Stadt Nauen, die ehemalige Jüdische Gemeinde von Ursula Arzbächer
- Wie in einer Rumpelkammer, Erinnerungen 1923 – 2005 von Günther Mönke
- Transnationale Spurensuche in den Anden, von geflüchteten Juden, „Altdeutschen“ und Nazis in
- Bolivien von Juliana Ströbele-Gregor
- Hotel Bolivia von Leo Spitzer
- Und seh’n wir die Heimat nicht wieder – vom märkischen Nauen zum nördlichen Eismeer 1941 -1945
- von Kurt Raschke
- Das Landwerk Neuendorf: Berufsumschichtung – Hachschara -Zwangsarbeit von Harald Lordick
- Nauener Heimatblätter, herausgegeben von den Nauener Heimatfreunden 1990 e.V.
- In Nauen durch die Jahrhunderte von Martina al Diban
Für die freundliche Unterstützung bei der Recherche und für die Übergabe von Dokumenten,
Fotos und Informationen möchten wir uns bedanken bei:
- Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam, Rep. 8 Stadt Nauen Nr. 101 und Rep. 36A
- Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg F648 (BLHA)
- Niedersächsisches Landesarchiv Hannover, Nds. 110 W Acc. 8/90 Nr. 221/19 und Acc. 31/99 Nr.
- 210927 (NLA)
- Landesarchiv Berlin
- Kreis- und Verwaltungsarchiv des Landkreises Havelland, Herrn Uwe Siegfried
- Magistrat der Stadt Gedern, insbesondere dem Stadtarchivar Herrn Erhard Müth
- Geschichte hat Zukunft – Neuendorf im Sande e.V., Herrn Bernd Pickert
- Stadt Nauen, insbes. dem Bürgermeister Herrn Manuel Meger und Herrn Christoph Artymiak
- Goethe-Gymnasium Nauen, insbes. Herrn Wieland Breuer und Frau Uta Reichel sowie den
- Schülerinnen und Schülern des Leistungskurs Geschichte Klasse 12
- Frau Ursula Arzbächer, Nauen und Herrn Günther Mönke, St. Ingbert
- Herrn Wolfgang Johl und Herrn Bodo Kalkowski, Nauen (Nauener Heimatfreunde 1990 e.V.)
- Herrn Wolfgang Wiech, Nauen (Nauener Nachtwächter)
- Frau Juliana Ströbele-Gregor, Berlin sowie Herrn und Frau Nölte, Nauen
- Herrn Marco Strahlendorf, Wustermark und Herrn Axel Schröder, Nauen
- Herrn Axel Huber, Singen und Herrn Andreas Freiberg, Berlin
- Frau Karla Meyer/Berlin, Herrn Mario Oberling/Falkensee, Herrn Jim Harrison/Dallgow
- Herrn Jörg Zander, Frau Isabel Llorens, Frau Katharina Schorsch, Frau Sylke Hannasky
- Frau Dr. Dr. Luisa Callejón, Berlin (Luisa Callejón Sprachdienste)
und bei allen anderen Freunden und Bekannten, die dieses Projekt ermöglicht haben.
Ganz besonderer Dank geht an die Tochter von Hans Homburger, Betty Homburger, für ihr
Vertrauen und ihre Bereitschaft, uns viele persönliche Dokumente und Informationen zur Verfügung
zu stellen.