9. Teil aus der Reihe „Die Eisenbahn in und um Nauen
Deutschland im April 1945. Die Schlacht um Berlin war in vollem Gange und der 2. Weltkrieg näherte sich seinem Ende. Zu diesem Zeitpunkt waren die Fernbahnhöfe im Berliner Stadtgebiet weitestgehend zerstört und kein Zug konnte die Reichshauptstadt mehr verlassen. Deshalb gewann der immer noch voll funktionsfähige Bahnhof Nauen als Eisenbahnknotenpunkt westlich Berlins strategisch stark an Bedeutung, was gleichzeitig sein Verhängnis wurde. Bei der letzten großen Angriffsserie von militärischer Bedeutung stand bei der 8. US Air Force neben den Verschiebebahnhöfen Wustermark und Seddin auch der Bahnhof Nauen auf der Abwurfliste.
Die Nauener waren bis dahin noch glimpflich davongekommen, denn die Luftangriffe richteten sich hauptsächlich auf das nahe Berlin. Als am 20.04.1945 kurz vor 10.00 Uhr vormittags wieder die Sirenen heulten, gingen die Einwohner mit diesen Gedanken erneut in die Keller. Ein Trugschluss!
Zum Zeitpunkt des Angriffs warteten Zivilisten und Wehrmachtsangehörige auf den Bahnsteigen auf ihren Zug, andere Reisende hielten sich in den Wartesälen oder der Bahnhofsgaststätte auf. Sowohl auf den oberen Ferngleisen als auch auf den unteren Gleisen des Ketziner Bahnhofs standen Güterzüge, beladen mit Kriegsmaterial wie z. Bsp. technische Ausrüstungen und ein Fernmeldezug der Wehrmacht. Munitionszüge waren jedoch nicht auf den Gleisen. Auf dem Güterbahnhof befand sich ein kleines Lager für Kriegsgefangene, die beim Be- und Entladen der Waggons helfen mussten.
Beim Auslösen des Fliegeralarms suchten die Menschen Schutz in abgedeckten Splittergräben, die sich in dem südlich vom Bahnhofsgebäude liegenden kleinen Park und einer Gartenanlage (später Busbahnhof/ heute Parkplatz) befanden. Bedienstete der Reichsbahn und Arbeiter des Gaswerks flüchteten in Richtung Graf-Arco-Straße.
Der ca. einstündige Angriff erfolgte in zwei aufeinanderfolgenden Wellen und verwüstete das Gebiet zwischen Waldemarstraße und Schlangenhorstweg. Auch das Schützenhaus an der Ecke Ludwig-Jahn-Straße und Häuser im Birkenweg in der Stadtrandsiedlung erhielten Treffer. Das Staatsbahnhofsgebäude und ein Stellwerk wurden sehr stark in Mitleidenschaft gezogen und die Gleisanlagen auf der Berlin-Hamburger Strecke waren so stark beschädigt, daß der Zugverkehr nun auch ab Nauen eingestellt werden musste. Der Ketziner Bahnhof wurde total von Bomben umgepflügt. Hier sah man nur noch Trümmerhaufen aus Schienen und Waggons, die in die Höhe ragten.
Auch die umliegenden Betriebe wurden stark in Mitleidenschaft gezogen. Neben dem Gaswerk wurden auch die Märkischen Elektrizitätswerke (MEW) von Bomben getroffen. Hier kamen Arbeiter, die im Keller Schutz gesucht hatten, im auslaufenden Trafoöl ums Leben. Die Seifenfabrik Hahn dagegen kam mit dem Schrecken davon, denn die 5-Zentner-Bomber, die hier lag, explodierte nicht und konnte als Blindgänger nach dem Angriff entschärft werden.
Die Reisenden, die in den Splittergräben vor dem Bahnhofsgebäude Schutz gesucht hatten, wurden von den Bomben bis zur Unkenntlichkeit zerrissen. Sie hatten keine Chance. Aber auch die Keller der umliegenden Wohnhäuser waren nicht ausreichend gesichert, daß sie einem derartigen Bombardement standhalten konnten. Die damals verwendeten Bomben hatten eine enorme Sprengkraft. Die Druckwelle deckte noch 100 Meter vom Explosionsherd entfernt Dächer in der Stadtrandsiedlung ab. Auch in den Kellern der Altstadt waren die Erschütterungen deutlich zu spüren. Bis heute werden entlang des Bahndamms immer wieder Blindgänger von damals gefunden. Die letzte kontrollierte Sprengung einer 250-kg-Weltkriegsbombe war erst im Juni 2018.
Die exakte Anzahl der Bombenopfer lässt sich bis heute schwer feststellen, waren doch zum Zeitpunkt des Angriffs auch viele Flüchtlinge im Bahnhof, deren Namen unbekannt blieben. Anfangs ging man von 60 bis 70 Toten aus. Erst im Jahre 1994/1995 wurden 79 Tote als bekannt und nachweisbar erfasst. Sie waren das traurige Resultat dieses Luftangriffs, der Nauen noch kurz vor Kriegsende heimsuchte. Zu ihrem Gedenken wurden auf dem Städtischen Friedhof Gedenksteine aufgestellt. Auch an die Opfer des sogenannten Verlorenen Zuges, der auf seiner Irrfahrt vom KZ Bergen-Belsen ins KZ Theresienstadt noch am 17.04.1945 den Bahnhof Nauen passierte, soll an dieser Stelle erinnert werden.
Autor: Uwe Ulrich
Hier zum 10. Teil – Der Neubeginn und Kleinbahntod in Nauen
Hier zum 1. Teil – Die Eisenbahn in und um Nauen
Hier zum 2. Teil – Der Ursprungs-Bahnhof
Hier zum 3. Teil – Die Kleinbahnen
Hier zum 4. Teil – Von Nauen nach Velten mit der Töpferbahn
Hier zum 5. Teil – Nauen – Wildpark – Umgehungsbahn
Hier zum 6. Teil – Nauen – Oranienburg – nördliche Umgehungsbahn
Hier zum 7. Teil – Mit der stillen Pauline von Nauen nach Rathenow